#4 ES BRENNT!



Natur vs. Kultur- Ein Paar Gedanken über die Waldbrände in der Türkei

Sie kennen die Pflanzen nicht
Sie kennen keine Tiere
Sie kennen keine Menschen
Angeblich kennen Sie Gott
Metaphysik ohne Physik!

Philosophie beginnt immer damit ,,über die Natur zu sprechen“
(Dücane Cündioğlu)

Der Mensch kommt nicht auf die Welt und besiedelt auch nicht die Erde, er wird in ihr, aus ihr geboren. Dieser Lebensraum mit all ihrer Gesamtheit, den Bäumen, Bären, Hirsche, Ziegen, Luchse, Eidechsen, Pilze, Bakterien sind Teil dieses Habitats.
Die Natur steht weder im Gegensatz zum Menschen noch zur Kultur, zwischen dem „Gemachten“ und „Gegebenen“ herrscht eine enge Beziehung, denn Nichts geht zum Nichts und alles was wir machen bleibt und mischt sich mit der Umwelt.

Wenn ich mich im Verhältnis von Mensch und Natur betrachte – was oder wer bin ich dann?

Ich verbrachte den ganzen Augustmonat in der Türkei, davon einige Wochen in Bodrum, eine Provinz von Muğla in der agäischen Region. – und hatte die Möglichkeit mich mit ganz besonderen Menschen auf sehr fesselnde Gespräche und Diskussionen einzulassen. Eine davon ist Nihal Abla (große Schwester) und Yalcin Abi (großer Bruder) und meiner Schwester Tugba. Abends saßen wir bis mitten in der Nacht in dem Kaffe der Buchhandlung, wo man die besten Bücher finden und den leckersten Mandarinen Eis essen konnte. Tiefe und intensive Gespräche über Gott und die Welt, vor allem aber war der Auftakt unserer Diskussionen die über wochenlang andauernden Waldbrände in der Region, die große Flächen an Wald zerstört hatten.

Es brannte! Die wütendenden Flammen hatten einen so großen Ausmaß erreicht, dass die Medien behaupteten sie seien die schlimmsten in der Geschichte der Türkei. Neben Muğla waren auch mehrere Gebiete in der Mittelmeerküste stark von den Bränden betroffen. Am 28. Juli brachen 270 Waldbrände in 53 Provinzen der Türkei aus, die wochenlang nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten und ganze Landstriche verwüstet haben. Tausende Tiere starben, Wald- und Ackerland sowie Gewächshausflächen in der Region wurden zu Asche und Hunderttausende Hektar Fläche wurde zerstört. Es gab viele Tote und mehrere Verletzte durch das Feuer und den giftigen Rauch. Die Winde trieben die Flammen in Richtung der Wohngebiete und dadurch mussten viele Orte evakuiert werden.

Doch wie kam es dazu? Unaufhörlich stellte ich mir und jeden den ich traf dieselbe immer widerkehrende Frage, um dem Gefühl der Verzweiflung und des Nichts-Tun zu können aufzulösen. Diese Frage führte zum gegenseitige preachen, wie wir es schaffen könnten eine bessere Beziehung zur Natur und Lebensraum, also zu uns selbst zu schaffen.

Konsum hat eine Abfolge, eine Chronologie, sagte Nihal. Die Mystik (Tasavvuf), Psychologie, Theologie und die Wissenschaft untersucht den Menschen in Bezug auf vier Kategorien: 1. Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, 2. zu den Dingen, 3. zu seiner Umwelt und 4. zum spirituellen, also zum Hak (Wahrheit). Welche Beziehung hat der Mensch zu sich selbst – wie sehr kennt sich der Mensch selber? Die Dinge, Objekte und die Natur, die er nutzt. Wenn du erstere überspringst ist das zweite so entfernt von dir. Wie sehr geht der Mensch schon in Kontakt mit sich selbst oder begegnet sich, werfe ich in die Runde.

Sensibilität für alle Elemente, für die Umwelt, Generationengerechtigkeit sparsamer Umgang, Verantwortung ..., führt Yalcin abi fort. Die Brände sind ein Spiegelbild unserer Beziehung zu uns selbst. Wenn ich mich verändere, verändert sich die Welt, sagt Tugba.

Grosse Flächen an Wald sind zerstört, Auch starke Winde fachten das Feuer immer wieder an. Temperaturen und Hitzewellen erschwerten die Situation. War es der weggeworfene Zigarettenstummel, die Bierflasche oder eine Brandstiftung? Zwischen einen Ort zu terrorisieren und eine Gurkenflasche im Wald zu verlassen gibt es keinen Unterschied. Planlosigkeit, Resignation, Gefühllosigkeit, Egozentrik, Unmoral, das hat Yalcin abi ich weiss nicht wie oft widerholt an jedem Abend.

Die Brände sind nicht nur eine Naturkatastrophe, es eine enorme Energie, welches rauskommen und sich zeigen möchte. Sie sind zugleich das Spiegelbild unserer Selbst. Wir haben uns im Spiegel gesehen. Der Zedernbaum, der Tannenbaum oder das Eichhörnchen - Wie kann der Wurm in einer Welt eine Existenz haben, in der Mikroorganismen, Pilze verschwinden, wie wird Betül, Nihal, Tugba oder Yalcin Sein-können? Und wir nennen das nur einen Brand.

Wie schnell sich das lebenswichtigste Organ unserer Erde nach solchen Bränden wieder erholt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Das Waldökosystem ist komplex, es gibt unzählige Konsequenzen. Auch wenn das Catchword, Anthropozän lautet, also das vom Mensch gemachte Zeitalter ist es nicht nur der Einfluss des Menschen auf die Erde sondern auch auf sich selbst. Wir brennen, wir sind in der Natur und die Natur ist in uns. Die Quelle nach der wir suchen liegt in uns, sagte Nihal abla.

Bäume kommunzieren über ihre Wurzeln und über die Luft kilometerweit mit ihrer ganzen Umgebung miteinander, ob genug Wasser und Nährstoffe vorhanden sind und warnen sich über mögliche Gefahren. So entstehen Wälder und komplexe Lebensräume. Nur mit dem Menschen sind sie in keiner Beziehung, sie geben einen f... auf sie, sage ich laut.

* Dücane Cündioğlu, (1962, Istanbul) Schriftsteller, Philosoph.

QAMAR Muslimisches Magazin für Kultur und Gesellschaft / Nr. 4 / Herbst 2021