#5 EROS, ZÄRTLICHKEIT UND EMOTIONALER KAPITALISMUS!



Zwischen digitalem Liebesmarkt und Rationalisierung des Begehrens: Wie lieben wir in der spätkapitalistischen Gesellschaft? Eine Antwortsuche bei Kurt, Han, Illouz, hooks.

Liebe ist ambivalent und komplex. Sie ist ein Konstrukt mit bestimmten Vorstellungen und Praktiken, durchdrungen von Ökonomie und gesellschaftlichen Normen. Liebe ist politisch. Phantasie und Begehren werden durch Konsumgüter und Massenkultur stimuliert.
Unsere Beziehungen und unser Intimleben, ihre Formen und Praktiken werden von den Machtverhältnissen und der Kommerzialisierung beeinflusst und reguliert – vom Moment des Kennenlernens bis zur Trennung.

Şeyda Kurt smartet in ihrem kürzlich erschienen Buch Radikale Zärtlichkeit den von bürgerlichen Wertvorstellungen überladenen Begriff der Liebe auf. Sie fordert ihre Abschaffung, um neue Konzepte von Intimität zuzulassen – vor allem: Zärtlichkeit. Şeyda Kurt schreibt: „Beziehungen sind keine luftleeren Räume. […] Strukturelle Privilegien und Diskriminierungen heben sich auch in romantischen Beziehungen nicht auf. Denn um Beziehungen spannt sich kein Netz, dass politische Strukturen auffängt und sie unwirksam macht.“

In der Hetero-Kernfamilie und in der institutionalisierten Ehe legitimiert die unantastbare Heiligkeit der Liebe auch Gewalt und Missbrauch. Patriarchale Konstrukte und Massenmedien repräsentieren und theoretisieren, was Liebe ist – schreibt bell hooks in ihrem Buch Alles über Liebe und fordert die Entmystifizierung der Liebe, damit sie erst richtig gedeihen kann.

Für Eva Illouz, die unzählige Bücher über die Soziologie der Liebe geschrieben hat, diagnostiziert eine Transformation von Liebe und Romantik unter neoliberalen Konsum- und Marktlogiken. Sie kritisiert vor allem virtuelle Begegnungen, die entkörperlichte Form der Partnersuche, die zu einer schnellen und unkomplizierten Befriedigung, beruhend auf Algorithmen, führt. Dating wird zum amorphen Spiel: Wievielmal Swipen und wie oft Gematchtwerden, um die Liebe zu finden? „Aus einer Situation der Knappheit geraten wir nicht in einen Überfluss, sondern in einen Hyperüberfluss. Dadurch kommt es zu einer Ununterscheidbarkeit“, schreibt Illouz.

Auch bei Byung-Chul Han ist für das isolierte Leistungssubjekt ein Wir unmöglich, denn das heutige Sozialgefüge habe keinen Platz mehr für den oder die Andere, wir lebten in der „Hölle des Gleichen“, sagt er. In Agonie des Eros schreibt Han: „Die Liebe, die heute nur noch Wärme, Intimität und angenehme Erregung zu sein hat, deutet auf die Zerstörung der heiligen Erotik hin.“ Für Han bedeutet das die Pornografisierung der Welt durch die Zerstörung der erotischen Fantasie, denn die Liebe und der Eros brauchen den und die Andere:n.
Neue Visionen und Konzepte fordern eine Ausweitung unseres Vorstellungsvermögens. Es existieren nicht nur romantische und sexuelle Beziehungen. Für Han ist der Eros nicht nur Begehren, sondern auch Mut und Verstand. Bei hooks ist die Liebe vor allem Handlung, eine hoffnungsvolle, transformative Kraft. Es geht darum, eine radikale „Kunst des Liebens“ neu zu denken.

Kann die Gesellschaft hier vielleicht von queeren Beziehungen lernen, fragt Şeyda Kurt. Lesbische, nichtbinäre und Trans-Personen haben Konzepte von Liebe geschaffen, die sich der Norm kreativ entziehen – bis hin zum queeren Familienleben, das sich mehr auf langfristige Freundschaften stützt als auf pure Verwandtschaft und verklärte Romantik. Es erfordert aber Mut, um neue Wege zu finden – zu neuen Formen der Zärtlichkeit.


[Wenn es sich ausgeht, an den Rand diese Literaturverweise anfügen, jeweils ungefähr dort, wo die Autor:innen erwähnt werden]

Byung-Chul Han, Agonie des Eros

bell hooks, Alles über Liebe. Neue Sichtweisen

Eva Illouz, Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung

Şeyda Kurt, Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist


QAMAR Muslimisches Magazin für Kultur und Gesellschaft / Nr. 5 / Winter 2021